von Manuel von Heugel
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To the Moon and Back – von defizitär zu visionär?

Der Abschied von Habeck und Baerbock, ein ambitionierter Leitantrag und ein Koalitionsvertrag, der vieles verspricht, aber wenig klärt: In unserer aktuellen Podcastfolge analysieren wir den kleinen Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen, werfen einen Blick auf das neue Selbstverständnis als „führende Kraft der linken Mitte“ – und stellen uns die Frage, wie konkret dieser Kurs wirklich ist. Gleichzeitig nehmen wir den Koalitionsvertrag von CDU und SPD unter die Lupe: Was steckt hinter Schlagworten wie „KI-Offensive“, „Digitalministerium“ oder „Wirtschaftswende“? Dieser Beitrag vertieft unsere Diskussion, ordnet zentrale Themen politisch ein, ergänzt sie mit Zahlen, Positionen und kritischen Fragen – und zeigt, worauf es jetzt in Opposition und Regierung gleichermaßen ankommt. Für alle, die wissen wollen, wie Politik nach der Zeitenwende tatsächlich gestaltet wird – und wer dabei welche Richtung vorgibt.

KI-generiertes Bild: Eine Rakete startet über dem beleuchteten Reichstagsgebäude in Berlin, im Hintergrund der Vollmond. Aufschrift: "To the moon and back – von defizitär zu visionär?"

Der grüne Länderrat: Neuanfang oder nur neue Worte?

Ein kleiner Parteitag mit großer Bedeutung: Mit dem Wechsel in die Opposition beginnt für Bündnis 90/Die Grünen eine neue Phase – und vielleicht sogar eine neue Erzählung. Auf dem Länderrat in Berlin verabschiedeten sich Robert Habeck und Annalena Baerbock sichtbar bewegt aus der ersten Reihe der Parteiführung. Ihr Rückzug markiert nicht nur einen personellen Einschnitt, sondern auch den Startschuss für die grüne Suche nach Richtung, Haltung und Strategie.

Im verabschiedeten Leitantrag wird der Anspruch formuliert, die „führende Kraft der linken Mitte“ werden zu wollen. Eine Formulierung, die aufhorchen lässt – und die viele Fragen aufwirft. Was heißt das konkret? Wer ist mit „linke Mitte“ eigentlich gemeint? Und wie unterscheidet sich dieser Kurs von dem, den man zuvor – mit Blick auf die vielzitierte „Merkel-Lücke“ – verfolgt hatte?

Klar ist: Die Grünen wollen in der Opposition nicht nur laut, sondern lösungsorientiert auftreten – besonders dann, wenn Klimaschutz geschwächt, demokratische Werte untergraben oder das Grundrecht auf Asyl infrage gestellt wird. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die strategische Ausrichtung innerhalb der Partei noch längst nicht final ist. Während einige Mitglieder eine stärkere Verortung im linken Spektrum fordern, plädieren andere für eine offenere Ansprache der politischen Mitte.

Was dabei jedoch bislang kaum sichtbar wurde, ist eine konkrete Aufarbeitung der Wahlniederlage in Tiefe und Struktur. Zwar wurde eingeräumt, dass es kommunikative Schwächen gegeben habe – etwa in der Vermittlung politischer Erfolge oder beim Umgang mit Krisen – doch viele in der Partei wünschen sich mehr: eine offene Analyse, die auch unbequeme Fragen zulässt. Wie kann das grüne Profil künftig geschärft werden, ohne nur auf Appelle zu Haltung und Werte zu setzen? Wo braucht es vielleicht auch organisatorische oder strategische Veränderungen? Der Länderrat war ein wichtiger erster Schritt – nun kommt es darauf an, wie viel Mut zur Selbstreflexion die Partei in den nächsten Wochen und Monaten zeigt.

Zwischen Aufbruch und Unsicherheit: Die grüne Neuausrichtung im Spiegel der Kritik

Der Länderrat markiert den offiziellen Start in die Oppositionsrolle – und mit ihm beginnt auch die Debatte darüber, ob die Neuausrichtung der Grünen auf einem tragfähigen Fundament steht. Während viele die Entwicklungen als Chance sehen, werden intern wie extern auch kritische Stimmen laut. Ein paar Gedanken dazu – differenziert und mit Blick auf beide Seiten.

Was für den Kurs spricht:

Klarer Neuanfang

Der Rückzug der bisherigen Parteispitze schafft Raum für personelle und strategische Erneuerung. Das bietet die Chance, alte Muster zu hinterfragen, neue Perspektiven einzubinden und das Vertrauen enttäuschter Wähler:innen zurückzugewinnen.

Fokus auf Kernthemen

Die Rückbesinnung auf zentrale Anliegen – Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, demokratische Werte – stärkt das grüne Profil und könnte helfen, wieder schärfer konturiert aufzutreten. Besonders in Zeiten zunehmender Polarisierung braucht es eine verlässliche Stimme für ökologische und soziale Fragen.

Stärkung der innerparteilichen Demokratie

Die offene Diskussion über Fehler und Zukunftsstrategien zeigt: Die Partei ist bereit, sich selbstkritisch mit ihrer Rolle auseinanderzusetzen. Dass dabei nicht alles sofort rund läuft, ist Teil eines demokratischen Reifeprozesses – und ein Zeichen politischer Lernfähigkeit.

Was kritisch gesehen wird:

Unklare Führungsstruktur

Der gleichzeitige Rückzug beider Vorsitzenden sorgt für eine gewisse Orientierungslosigkeit. Wer übernimmt jetzt Verantwortung? Wer führt durch diese Phase? Bis eine neue Führungsfigur sichtbar wird, entsteht ein Vakuum, das strategisch schwierig sein kann.

Mangelnde Tiefe in der Aufarbeitung

Obwohl einige Schwächen benannt wurden, bleibt vieles vage. Wichtige Themen wie der Umgang mit der Migrationspolitik, die Kommunikation in Krisenzeiten oder das Verhältnis zu den Koalitionspartnern wurden nur am Rand thematisiert. Viele fragen sich, ob die Partei den Mut hat, auch unbequeme Fragen zuzulassen.

Gefahr innerparteilicher Reibung

Mit dem Übergang in die Opposition treten bestehende Spannungen stärker hervor: Zwischen Realos und Fundis, zwischen Bewegungspartei und Regierungsverantwortung, zwischen Anspruch und Kompromiss. Die Herausforderung wird sein, diese Unterschiede nicht nur zu moderieren, sondern produktiv zu nutzen – ohne dabei die Geschlossenheit zu verlieren.

146 Seiten Zukunft? – Was der neue Koalitionsvertrag verspricht

Am 9. April 2025 wurde der neue Koalitionsvertrag mit dem Titel „Verantwortung für Deutschland“ vorgestellt. CDU, CSU und SPD haben nach intensiven Verhandlungen ein 144 Seiten starkes Papier vorgelegt, das die politischen Leitlinien der kommenden Legislaturperiode absteckt. Friedrich Merz (CDU) soll voraussichtlich Anfang Mai zum Bundeskanzler gewählt werden. Der Vertrag gliedert sich in sechs große Kapitel – von Wirtschaft über Soziales bis hin zu Außen- und Sicherheitspolitik – und benennt sowohl strukturelle Reformen als auch konkrete Einzelmaßnahmen.

Wirtschaft und Finanzen

  • Einkommensteuer: Geplant ist eine Senkung für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislaturperiode.
  • Körperschaftsteuer: Sie soll ab dem 1. Januar 2028 in fünf Schritten gesenkt werden.
  • Degressive Abschreibung: Für Ausrüstungsinvestitionen wird in den Jahren 2025 bis 2027 eine degressive Abschreibung von 30 % eingeführt.
  • Pendlerpauschale: Ab 2026 soll sie ab dem ersten Kilometer bei 38 Cent liegen.

Soziales und Familie

  • Kindergeld: Eine Erhöhung ist vorgesehen, gekoppelt an den Kinderfreibetrag.
  • Rente: Das Rentenniveau soll bis 2031 stabil bei mindestens 48 % gehalten werden.
  • Bürgergeld: Das System wird reformiert – mit verschärften Sanktionen und neuem Namen.

Migration und Integration

  • Abschiebungen: Rückführungen auch nach Afghanistan und Syrien sind wieder vorgesehen.
  • Einbürgerung: Die sogenannte „Turbo-Einbürgerung“ wird gestrichen.
  • Familiennachzug: Neue, restriktivere Regelungen sollen eingeführt werden.

Infrastruktur und Digitalisierung

  • Planungsbeschleunigung: Infrastrukturprojekte sollen schneller realisiert werden können.
  • Digitalministerium: Ein eigenständiges Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung wird geschaffen.

Umwelt und Energie

  • Atomkraft: Ein Wiedereinstieg ist nicht geplant.
  • Fusionsforschung: Der Staat will gezielt in Zukunftstechnologien wie Fusionsenergie investieren.

Verteidigung und Gesellschaft

  • Wehrdienst: Statt einer Rückkehr zur Wehrpflicht wird ein freiwilliges Modell nach schwedischem Vorbild eingeführt.

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz – Aufbruch mit vielen Wenns und Abers

Die neue Koalition will Deutschland digital „souverän, ambitioniert und innovativ“ aufstellen. Dafür soll es ein eigenständiges Digitalministerium geben, das die föderal zersplitterte Zuständigkeit bündeln und strategisch lenken soll. Ziel ist eine umfassende Verwaltungsmodernisierung, aber auch der Aufstieg zur sogenannten „KI-Nation“. Neben neuen Rechenzentren, Bürger-IDs und dem Ausbau digitaler Infrastruktur werden auch ambitionierte Projekte wie eine zentrale Datenstrategie, ein 100.000-GPU-Programm (AI-Gigafactory) und KI-Reallabore angekündigt.

Besonders auffällig: Vieles klingt bekannt – vom One-Stop-Shop für Unternehmensgründungen bis hin zur digitalen Identität per Wallet. Auch der DigitalPakt Schule geht in die nächste Runde, mit KI-gestützten Lernsystemen und digital unterstützten Vertretungskonzepten. Doch bleibt wie so oft die Frage: Reicht das – oder bleibt es beim Technikversprechen ohne kulturellen Wandel?

Chancen und Risiken der Digitalpolitik im Koalitionsvertrag

Vorteile Nachteile / Kritikpunkte
Eigenes Digitalministerium soll Zuständigkeiten bündeln und Tempo schaffen Kompetenzwirrwarr zwischen Bund, Ländern und Kommunen könnte bestehen bleiben
Digitale Identität und Bürgerkonto erleichtern Behördengänge Akzeptanz und Datenschutzfragen bleiben unbeantwortet
KI-Offensive mit 100.000-GPU-Programm (AI-Gigafactory) angekündigt Finanzierung und Energieverbrauch nicht geklärt
DigitalPakt 2.0: Endgeräte, Lernsysteme, Lehrkräftebildung Keine Strategie zur Vermittlung digitaler Kompetenzen oder kritischem Denken
One-Stop-Shop für digitale Unternehmensgründung in 24 Stunden Ob das wirklich umgesetzt wird, bleibt offen – ähnlich wie beim Onlinezugangsgesetz
Datenstrategie mit Open Data, Datentreuhändern und Datennutzungsgesetz Konkrete Umsetzungsschritte fehlen – nur Prinzipien genannt
KI-Reallabore und Förderung von Start-ups & KMU Chancen für echte Sprunginnovationen nur bei guter Förderpraxis

Unsere Einschätzung

Die Digitalstrategie der neuen Koalition ist ambitioniert – vielleicht zu ambitioniert. Begriffe wie „KI-Nation“, „One-Stop-Shop“ oder „AI-Gigafactory“ zeigen, wohin die Reise gehen soll. Doch viele dieser Punkte klingen vertraut: Bereits unter vorherigen Regierungen wurden ähnliche Programme angekündigt – bei der Umsetzung aber mangelte es oft an Geschwindigkeit, Klarheit und Verbindlichkeit.

Positiv ist die Ankündigung, KI nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich und inklusiv zu denken – etwa durch Beteiligung von Zivilgesellschaft, Fokus auf AI-Sicherheit und die Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen. Aber: Eine ethische Debatte über die Risiken, Machtstrukturen und Energiebedarfe bleibt weitgehend aus.

Wenn Deutschland wirklich digitaler Vorreiter sein will, braucht es mehr als Reallabore und Serverfarmen – nämlich eine neue digitale Kultur: verlässlich, nutzerorientiert, transparent. Ob diese Koalition dafür die richtigen Weichen stellt, wird sich zeigen – bislang bleibt vieles im Nebel der Zukunftsversprechen.

Automobilindustrie und Mobilität – Förderpakete, Floskeln und offene Fragen

Der Koalitionsvertrag betont die Bedeutung der Automobilindustrie als Schlüsselbranche für Beschäftigung, Export und technologische Entwicklung in Deutschland. Dabei setzt die Koalition auf Technologieoffenheit, gezielte Förderungen und ein Bündel an Maßnahmen für den Hochlauf der Elektromobilität – von Steuererleichterungen bis zum Ausbau der Ladeinfrastruktur. Parallel soll auch das autonome Fahren in den Regelbetrieb überführt und Wasserstoff für Nutzfahrzeuge gefördert werden.

Im Bereich Mobilität wird ein Drei-Säulen-Finanzierungsmodell eingeführt: öffentliche Mittel, Nutzerbeiträge und privates Kapital. Der ÖPNV soll mit einem Modernisierungspakt gestärkt, das Deutschlandticket langfristig gesichert und die Ladeinfrastruktur flächendeckend ausgebaut werden. Die Vision: klimafreundliche Mobilität für alle – doch wie viel davon ist realistisch umsetzbar?

Chancen und Risiken der Automobil- und Verkehrspolitik

Vorteile Nachteile / Kritikpunkte
Förderung von E-Mobilität durch Steuererleichterungen, Kaufanreize und Infrastruktur Massive Förderung auch für teure Dienstwagen (bis 100.000 €), soziale Schieflage bleibt
Technologieoffenheit: E-Fahrzeuge, Plug-in-Hybride, Wasserstoff und Range-Extender werden gefördert Gefahr der Verzögerung durch Überförderung ineffizienter Übergangstechnologien
Maßnahmen für einkommensschwächere Haushalte durch Klimasozialfonds Unkonkret in der Ausgestaltung, wirkt wie ein Nebensatz zu den Industrieanreizen
Ausbau der Ladeinfrastruktur für Pkw, Lkw und Depotladung wird gestärkt Vielversprechend, aber Zeitplan, Standards und Umsetzungserfahrung fehlen
Autonomes Fahren soll in den Regelbetrieb überführt werden, Modellregionen geplant Rechtlicher und ethischer Rahmen weiterhin unklar, keine klare Rollenteilung mit ÖPNV
Modernisierung von ÖPNV und Bahninfrastruktur inkl. Deutschlandticket und Elektrifizierung Dauerhafte Finanzierung unklar, soziale Staffelung beim Ticket nur angekündigt

Unsere Einschätzung

Der Mobilitätsabschnitt des Koalitionsvertrags ist breit angelegt – und genau das ist auch sein Problem. Auf den ersten Blick liest sich vieles ambitioniert: Flächendeckende Ladeinfrastruktur, Förderung sauberer Technologien, mehr Mittel für Bahn und Bus, Fortschritte beim autonomen Fahren. Doch bei näherem Hinsehen offenbaren sich Brüche.

Besonders deutlich wird das an der Förderung von E-Autos mit einem Listenpreis von bis zu 100.000 Euro. Wer ein solches Fahrzeug als Dienstwagen fährt, profitiert von massiven steuerlichen Vorteilen. Bei Anwendung der 0,25 %-Regel ergibt sich eine sehr geringe Steuerlast – ein enormer geldwerter Vorteil, der vor allem Besserverdienende entlastet.

Beispiel: Bruttogehalt 5.000 €, ca. 3.000 € netto – Auswirkungen eines 100.000 €-E-Fahrzeugs als Dienstwagen auf das monatliche Nettoeinkommen:

Regelung Zu versteuern (monatlich) Steuerlast (geschätzt) Netto-Abzug (Dienstwagenkosten)
1,0 %-Regel 1.000 € ca. 420–450 € ca. 450 €
0,25 %-Regel (E-Autos) 250 € ca. 100–110 € ca. 110 €

Ein Auto im Wert von 100.000 Euro wird so steuerlich behandelt, als würde es 25.000 Euro kosten – eine Förderung, von der Geringverdienende nichts haben. Gleichzeitig fehlt es an erschwinglichen E-Fahrzeugen für den Massenmarkt. VW plant zwar ein Modell für 20.000 Euro – aber dessen Marktstart ist noch unklar. Die Nachfrage ist da, das Angebot fehlt – und der Koalitionsvertrag setzt dennoch Anreize für Fahrzeuge, die für viele unerschwinglich bleiben.

Während teure Fahrzeuge konkret subventioniert werden, bleibt die Unterstützung für einkommensschwächere Haushalte vage. Statt den dringend nötigen Strukturwandel in der Automobilindustrie aktiv zu steuern, bleibt man lieber bei wohlklingender „Technologieoffenheit“ – auch wenn das heißt, ineffiziente Übergangstechnologien wie Plug-in-Hybride weiter zu fördern.

Das Konzept der Gleichzeitigkeit von individueller Mobilität, autonomem Fahren, ÖPNV-Ausbau und Klimazielen wirkt überfrachtet. Ohne Priorisierung droht eine Politik, die alle ein bisschen mitnimmt – aber niemanden richtig. Auch hier gilt: Der Koalitionsvertrag benennt viele Baustellen – die Frage bleibt, welche davon auch wirklich angepackt werden.

Klima und Energie – Klimaziele bekräftigt, Richtung offen

Die neue Koalition bekennt sich zur Klimaneutralität bis 2045 und zum Pariser Abkommen. Die Klimaziele werden nicht aufgehoben – aber flexibilisiert: Neben CO₂-Reduktion im Inland sollen künftig auch negative Emissionen (z. B. über CCS-Technologien) und Ausgleichsprojekte im Ausland angerechnet werden. Im Mittelpunkt steht eine Wirtschafts- und Energiepolitik, die Klimaschutz mit Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit verbinden soll.

Die Stromsteuer soll gesenkt, Netzentgelte gedeckelt und ein Industriestrompreis eingeführt werden. Gleichzeitig will die Koalition den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen, ohne die nationale Strompreiszone aufzugeben. CCS (Carbon Capture and Storage) wird als „unerlässlich“ bezeichnet – auch für neue Gaskraftwerke. Wasserstoff, Biomasse, Offshore-Wind, dezentrale Speicherlösungen und Netzoptimierung bilden das technische Fundament dieser Politik.

Chancen und Risiken der Klima- und Energiepolitik

Vorteile Nachteile / Kritikpunkte
Verbindliches Ziel: Klimaneutralität bis 2045 wird formal bestätigt „Bilanzieller“ Klimaschutz durch Kompensation im Ausland wirkt rechnerisch, nicht real
Stromkosten-Entlastung: Stromsteuerreduktion & Industriestrompreis Haushalte profitieren weniger als Industrie – soziale Staffelung fehlt
Ausbau Erneuerbarer: Windkraft, PV, Geothermie, Speicher, H2-Netz Wenig zu Bürgerenergie, kommunaler Beteiligung oder Flächenkonflikten
CCS als Strategie für „nicht vermeidbare Emissionen“ Hoch umstritten, teuer, technologisch kaum etabliert – Risiko für echte Reduktion
Planungsbeschleunigung für Netze, Speicher und Erzeugung Konflikte mit Umwelt- und Naturschutz sowie Beteiligungsverfahren drohen
Technologieoffenheit beim Kraftwerksausbau (Gas, H₂, Bioenergie) Keine klare Priorisierung – Gefahr von Fehlinvestitionen und ineffizientem Mitziehen aller

Unsere Einschätzung

Die Klima- und Energiepolitik im Koalitionsvertrag wirkt in großen Teilen wie ein Rückschritt. Zwar werden die Ziele – Klimaneutralität bis 2045, Ausbau der Erneuerbaren – formal bekräftigt. Doch auf dem Weg dorthin finden sich viele Kompromisse, Floskeln und Rechenspiele. Statt einer mutigen Strukturreform stehen Technologieoffenheit, internationale Kompensation und industriefreundliche CO₂-Bilanzen im Zentrum.

Was fehlt, ist der politische Wille, Klimaschutz zur echten Priorität zu machen – jenseits von Förderkulissen und Zielzahlen. Der Koalitionsvertrag verzichtet auf verbindliche Meilensteine, streicht zentrale Gesetzesreformen wie das Heizungsgesetz und setzt auf Techniken wie CCS, deren Praxistauglichkeit höchst umstritten ist.

Positiv: Der Ausbau der Infrastruktur – Netze, Speicher, dezentrale Einspeiser – wird als systemischer Prozess gedacht. Doch was fehlt, ist eine glaubwürdige Erzählung für die Menschen: Wie sieht eine klimaneutrale Zukunft konkret aus? Welche Rolle spielen Bürger:innen, Kommunen, Genossenschaften? Wie sichern wir Akzeptanz und Beteiligung?

In Summe bleibt der Eindruck: Dieser Vertrag kennt die Klimaziele – aber noch nicht den Weg dorthin. Viel hängt nun davon ab, ob der Koalition gelingt, Tempo mit Gerechtigkeit und Technik mit Akzeptanz zu verbinden.

Naturschutz und Wald – Zwischen Multifunktionalität und Missverständnis

Der Koalitionsvertrag bekennt sich zur „nachhaltigen Waldbewirtschaftung“ und zur sogenannten „Multifunktionalität des Waldes“. Gemeint ist: Der Wald soll gleichzeitig Erholungsort, Holzlieferant, Lebensraum und Klimaschützer sein. In der Praxis führt dieser Spagat aber zu einem Zielkonflikt, den der Koalitionsvertrag nicht auflöst – sondern eher umgeht. Die bisherigen Regelungen, insbesondere das veraltete Bundeswaldgesetz, bleiben im Wesentlichen unberührt.

Wirklich konkrete Ziele zum Waldumbau – etwa ein höherer Laubwaldanteil, Mindestflächen für ungenutzte Naturwälder oder Einschränkungen bei der industriellen Holznutzung – fehlen komplett. Stattdessen setzt die Koalition auf „Praxistauglichkeit“ und „Kooperation mit Waldbesitzern“. Was positiv klingt, ist aus Sicht vieler Umweltverbände ein Synonym für freiwillige Lösungen, schwache Regulierung und effektiven Stillstand.

Chancen und Risiken der aktuellen Waldpolitik

Vorteile Nachteile / Kritikpunkte
Fokus auf klimaresiliente Mischwälder als Zielbild Keine verbindlichen Flächenziele für Laubwald oder Naturwälder
Anerkennung der multifunktionalen Rolle des Waldes Begriff bleibt vage – Konflikt zwischen Ökologie und Nutzung wird nicht aufgelöst
Kooperation mit Waldbesitzern soll Realitätsnähe sichern Interessen der Holzlobby dominieren – wenig Schutz vor Übernutzung
EU-Vorgaben sollen mit „Null-Risiko-Variante“ entschärft werden Wirkungsvoller Umweltschutz wird aufgeweicht – Schutzverpflichtungen unterlaufen
Fortführung bestehender Programme (GAK, ANK) Kein Reformwille beim Bundeswaldgesetz erkennbar – seit Jahren unverändert

Unsere Einschätzung

Die Waldpolitik in diesem Koalitionsvertrag wirkt wie eine Bewahrungsformel für den Status quo. Das Bundeswaldgesetz, das zentrale Regelwerk für den Schutz und die Nutzung unserer Wälder, wird nicht einmal erwähnt. Stattdessen dominieren bekannte Formulierungen: Praxistauglichkeit, Freiwilligkeit, Kooperation. Das wirkt wie ein Konzept, das niemandem wehtun soll – und genau das ist das Problem.

Der Verzicht auf verbindliche Ziele für Biodiversität oder Flächenanteile lässt vermuten, dass hier wirtschaftliche Interessen – insbesondere aus der Forst- und Holzlobby – eine starke Rolle spielen. Die Bundesregierung will offenbar keine Konfrontation mit den Waldbesitzerverbänden, sondern setzt auf Konsens. Doch dieser Konsens kostet: echte Fortschritte beim Waldumbau, bei Bodenschutz oder dem Aufbau von Naturwäldern bleiben aus.

Wenn wir Wälder wirklich als Teil der Lösung in der Klimakrise begreifen wollen, brauchen wir nicht nur schöne Bilder von Mischwäldern, sondern klare Regeln. Der Koalitionsvertrag bleibt hier schwach – und verpasst eine wichtige Chance.

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Bild von Manuel von Heugel
Manuel von Heugel

Manuel ist zusammen mit Sina Gastgeber des Podcasts “Politik aufs Ohr”. Seit August 2023 setzt er sich aktiv bei den Grünen in Friesland ein und wurde im März 2024 zum Ortssprecher der Grünen in Varel ernannt. Mit über 11 Jahren Erfahrung leitet er die Online Marketing Agentur WEBMARKETIERE, die sich auf die Erstellung und Vermarktung von Webseiten spezialisiert hat. In seiner Freizeit widmet sich Manuel leidenschaftlich dem Gärtnern und der Holzbearbeitung.

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